* 19. April 1985
von Gerardo Scheige
Essay
Dass die »Pietà« des französischen Malers William-Adolphe Bouguereau (1825–1905) bei Lisa Streich einen bleibenden Eindruck hinterließ, verdeutlichen vier unterschiedliche Fassungen des gleichnamigen Stücks – ob solistisch, installativ oder als Ensemblewerk. Entscheidend für die musikalische Auseinandersetzung mit der Mater dolorosa war für Streich die Einzigartigkeit und damit gesellschaftliche Relevanz, die sie ebendiesem Vesperbild attestierte: »In Paris spürte ich zum ersten Mal, dass Männer und Frauen nicht gleichgestellt sind. In all den Kirchen sah ich eine Marienverehrung, doch gesellschaftlich herrschte eine Herabsetzung der Frau vor. Im nördlichen Europa dagegen sieht man nur tote Männer (Jesus), die Frau aber ist mehr oder weniger gleichgestellt. Das hat mich sehr beschäftigt. Zeitgleich lernte ich in der ›Pietà‹ von Bouguereau das bis heute für mich einzige Gemälde kennen, in dem Maria eine Feministin ist« (zit. n. Nonnenmann 2018, 4). Die leidende, trauernde Maria steht hier buchstäblich im Fokus, ist mittig platziert, wendet ihr Haupt nicht ihrem toten Sohn zu, sondern blickt der Betrachterin oder dem Betrachter direkt ins Auge. Hinter dem schmerzerfüllten Antlitz verbirgt sich zugleich eine selbstbewusste Stärke. Dafür fand Streich eine ambivalente, fragile wie energische musikalische Sprache: So werden beispielsweise in Pietà für motorisiertes Violoncello ...